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Jahreslosung 2021: Eine Auslegung

Gespräche im Geschwisterkreis über die Eltern können sehr aufschlussreich sein. Erstaunlich, wie unterschiedlich Vater und Mutter von ihren Kindern wahrgenommen werden. Das ist ein sensibler Bereich und kann heftige Reaktionen auslösen. Manches bricht erst nach dem Tod eines Elternteils auf. Erinnerungen werden wach. Da können plötzlich Sätze fallen wie: „Redest du gerade von unserem Vater? Habe ich da was verpasst oder du was verdrängt?“ Oder: „Hast du denn ganz vergessen, dass es auch Zeiten gab, in denen er ganz für uns da war? Ich werde es nie vergessen, wie Papa mich in meiner schwierigen Phase nicht fallen ließ!“ 

Nicht weniger spannend können Gespräche darüber sein, ob oder welche Rolle Gott in unserem Leben spielt. Wie er erlebt wurde und wird. Welches Bild, eingestanden oder uneingestanden, wir von ihm haben. Gerade in Krisenzeiten kommt an die Oberfläche, wer Gott für uns ist. Bisher vielleicht eher unbewusst: Ist er uns nahe oder fern, fühlt er mit oder lässt ihn menschliches Elend unberührt, hat er das Sagen in unserer Welt oder überlässt er das ihren Mächtigen, ist er gerecht oder ungerecht, allmächtig oder hilflos, herzlos oder barmherzig...? Dürfen und können wir überhaupt letztgültige Aussagen über Gott machen oder ist er für den einen so und die andere so? Welche Konsequenzen hat unser „Bild“ von Gott für unser Leben? Dabei sollen wir uns doch kein Bild von ihm machen...

„Gott ist barmherzig“ behauptet Jesus ungeachtet aller Fragen und Vorstellungen seiner Zuhörer und Zuhörerinnen, wenn er sie in seiner Feldrede auffordert:

 

„Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“

 

Viele Menschen sind mal wieder unterwegs zu ihm. Manche, weil sie hautnah erlebt haben, wie Jesus sich ausgerechnet ihnen zuwendet, wo sie doch sonst zu denen am Rande, zu den Ausgestoßenen zählen - gerade aus Sicht der Frommen und ihrer religiösen Führer. Jesus redet und erzählt so ganz anders von Gott als diese. Wie er Kranke berührt und heilt, vernehmen wiederum andere und wollen ihn nun selbst hören und etwas von seiner Kraft erleben. Die Zahl der Menschen um Jesus wird immer größer. Die einen halten etwas Abstand, die anderen sind ganz dicht dabei. So auch seine zwölf Jünger, die er gerade erst aus ihrem bisherigen Leben heraus- und in seine Nachfolge hineingerufen hat. Sie erleben die verändernde Kraft seiner Worte und Taten. Jesus lädt sie ein, auch ihr Leben verändern zu lassen:

 

„Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“

 

Der Arzt Lukas erzählt in seinem Evangelium die meisten Heilungsgeschichten. Er bindet die Geschichte von Jesus in die Weltgeschichte ein und richtet dabei seinen Blick nicht auf die Mächtigen, sondern auf die kleinen Leute, die Schwachen und Beladenen: auf Kranke, Hirten, Huren, Witwen, Waisen, auf die „Zöllner und Sünder“. Ihr Leid geht Jesus ans Herz und treibt ihn an Orte, die alle anderen meiden. Er ist da, wo die Starken den von Gott gesandten Messias niemals suchen würden.

Das begann schon mit seiner Geburt. Die Künstlerin Stefanie Bahlinger wählt einfaches Sackleinen als Untergrund ihrer Grafik, in deren Mitte ein kleines von warmem Rot umgebenes Kind liegt - ein Hinweis auf die ursprüngliche Bedeutung von „Barmherzigkeit“: Gebärmutter, Mutterleib. In diesem Kind kommt Gott selbst zur Welt - in die Niederungen seiner geliebten Schöpfung. Angedeutet durch einen Ausschnitt des Erdenrunds dahinter. Genau dieses Motiv des heruntergekommenen Gottes wählt die Künstlerin zur Illustration seiner „Ureigenschaft“ - seiner Barmherzigkeit.  In Jesus wird sie greifbar, macht Gott sich angreifbar. So ist das von warmem Gelbgold umstrahlte göttliche Kind schon gezeichnet durch das Kreuz. 

Wer Jesus begegnet, erfährt Heil und Rettung im Hier und Jetzt. Seine Mutter Maria singt schon zu Beginn ihrer Schwangerschaft: „Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes“. (Lukas 1, 46f) „Euch ist heute der Heiland geboren“, verkündigen die Engel den Hirten auf dem Feld (Lukas 2,11). „Meine Augen haben deinen Heiland gesehen“ dankt Simeon Gott, als er im Tempel dem Kind begegnet. (Lukas 2,30) „Und alle Menschen werden den Heiland Gottes sehen“, so kündigt Johannes der Täufer Jesus an (Lukas 3,6). 

Gott liebt und erbarmt sich seiner Menschenkinder. Er sucht Verlorene und feiert Freudenfeste für Gefundene. Jesus zitiert in der Synagoge von Nazareth das Prophetenwort aus Jesaja 61,1-2 und weiß es in seiner Person erfüllt:  »Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.« (Lukas 4, 18. 19) 

Die Jesusgeschichte deutet der Evangelist Lukas als Fortsetzung der Geschichte Gottes mit Israel. Sie ereignet sich zur Zeit des Römischen Reichs, weist aber weit darüber hinaus. Gottes Heilsgeschichte kann durch nichts und niemanden aufgehalten werden. Alle, die Jesus nachfolgen, sind Teil dieser Geschichte und sind dazu aufgerufen, sein Reich mitzugestalten. Wie kann das geschehen?

 

„Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“

 

Egal wie andere leben: „Seid barmherzig!“ Nicht am Verhalten anderer sollen wir uns orientieren. Auch nicht daran, was für uns selbst dabei herausspringt. Weder Verletztheit noch Vergeltungsmechanismen sollen unser Handeln leiten, auch wenn das nicht zu den Spielregeln der Erfolgreichen zählt und scheinbar auf die Seite der Verlierer führt. Maßgeblich ist allein Gottes leidenschaftliche Barmherzigkeit, die uns durch seine Gnade und Treue „unverdient“ widerfährt.

Ist es nicht anmaßend, diesem hohen Anspruch Jesu genügen zu wollen? Mit reinem Gutmenschentum komme ich da schnell an meine Grenzen. Mein Staunen über Jesu vorbildliche Taten und Worte bringen mich auch nicht weiter.

Mich beeindruckt in der Grafik die Dynamik, die von dem ruhigen und geborgenen Kind ausgeht. Im Bauhausstil aneinandergefügte warmtonige Flächen breiten sich aus und bilden einen schützenden Raum. Mit den Rot- und Orangetönen nimmt die Künstlerin die bereits über dem Kind lodernde Flamme des Heiligen Geistes auf. Der bewegt seit Pfingsten Menschen über Generationen hinweg, sein Reich zu bauen, sein heilsames Evangelium in Wort und Tag zu verkündigen. Durchaus facetten- und stilreich in ihrer jeweiligen Zeit. Warmweiß leuchtet sein Reich schon im Hintergrund auf.

In der unteren linken Bildhälfte zeichnen sich unklare, wirre Linien ab, die nach oben hin stärker werden. In der rechten Bildhälfte ziehen sich klare weiße Linien von unten nach oben durch und bilden zusammen mit den schwachen Linien der anderen Seite den Spitzbogen eines gotischen Fensters. Auf der linken Seite scheint das Fenster verletzt, auf der rechten nahezu unversehrt, in der Mitte heil zu sein. Doch das Kreuz auf dem Körper des Kindes weist schon auf sein Leiden und Sterben hin und erinnert an sein Wort: Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit. Und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch– für das Leben der Welt. (Johannes 6, 51). Sein Blut, Zeichen seiner Liebe zu uns, durchdringt und verändert die Erde und erinnert an Jesu Wort:  Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. (Johannes 12, 24).

In der Grafik steckt keine sichtbare Aktion. Sie strahlt vielmehr die unzerstörbare, weltverändernde Kraft der Barmherzigkeit Gottes aus, an der auch seine Kinder teilhaben und die sie verändert. Sie verändert auch mich und hilft mir dabei, auch mit mir selbst barmherzig zu sein. Nichts muss ich geben, was mir nicht selbst geschenkt ist: „Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben“ (Lukas 6, 38), verspricht Jesus direkt nach seinem Ruf:

 

„Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“

 

Nur deshalb ist er keine Überforderung. Weil mir in Jesus Gottes Barmherzigkeit begegnet, kann ich es auch aushalten, dass ich so Vieles von Gott nicht verstehe. Wie gut, dass auch ER mich mit meinen Fragen und Zweifeln aushält und ich ihn Vater nennen darf. Sein Herz schlägt nun einmal für seine Kinder, besonders für die Kleinen und Schwachen. Mein Vater wird schon richten, was mir nicht gelingt. Bei ihm bin ich geborgen und gehalten wie der Säugling in der Grafik.

Ganz im Sinne der Zusage: „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen“ (Jesaja 42,3) gebraucht er meine unsicheren und zaghaften „Linien“ und bestärkt und vollendet sie wie im strahlend weißen Bogen der Grafik. Ihm ist auch mein persönliches Lebenshaus, als Umriss von der Künstlerin leicht skizziert, nicht zu klein, um darin Wohnung zu nehmen und sie zu gestalten.

Mein Gebet ist es, dass seine Nähe und Liebe mich verändern und zu einem barmherzigen Menschen machen. Dass ER mich korrigiert, wo ich, bewusst oder unbewusst, mich selbst oder andere zum Maßstab meines Handelns mache. Gott schenke mir Beherztheit, da wach und präsent zu sein, wo ich gefordert bin. Ohne krampfhaften Druck, die Welt, und sei es auch nur meine kleine Welt, retten zu müssen. Es darf mich jedoch nicht länger kalt lassen, wenn jemand ins Abseits gerät, egal aus welchem Grund. „Die ist für mich gestorben!“, gilt dann nicht mehr. Ich bin gefragt und möchte immer wieder neu erkennen, wann, wo und wie ich „Nächste“ sein kann.

Längst nicht immer sind Kinder erfreut und ermutigt durch den Ausruf: „Ganz der Vater!“ In diesem Fall schon.

 

 

EINE AUSLEGUNG VON RENATE KARNSTEIN VERÖFFENTLICHT AUF JAHRESLOSUNG.EU